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Professor E. Sylvester Vizi: „Die Ungarische Revolution im Jahr 1956 war der europäischste Moment der jüngsten Vergangenheit“

Ungarn Heute 2021.10.23.

„Alle historischen Taten, die durch das Streben nach der Freiheit und Gerechtigkeit motiviert sind, werden nach einer Weile universell, genauso, wie es die wissenschaftlichen Anstrengungen zugunsten der Menschheit werden“ betont Professor E. Sylvester Vizi, Präsident a. D. der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in seinem Erinnerungsschreiben an die ungarische Revolution von 1956. Der Vorsitzende der Stiftung „Freunde von Ungarn“, Herausgeber unseres Portals fügt hinzu: das ungarische Volk hat in seiner tausendjährigen Geschichte seine Freiheitsliebe mehrmals bewiesen, doch war dies während der Revolution im Jahr 1956 beispiellos, als sich Ungarn „als ein kleines Land, aber als eine große Nation“ dem Sowjetimperium entgegenstellte. 

„Laut in Wien eingetroffenen diplomatischen Meldungen leisten die ungarischen Revolutionskräfte der sowjetischen Armee einen hartnäckigen Widerstand. In den Kämpfen von Haus zu Haus nehmen auf der Seite der Männer angeblich auch Frauen und Kinder teil ..” Stand auf der Titelseite der US-amerikanischen Zeitschrift „New York Times“ am 7. November 1956. Und obwohl die ungarische Revolution zum Zeitpunkt des oben zitierten Berichts der New York Times bereits beendet war, „haben die heldenhaften Opfer der Aufständischen einen Vorbildcharakter für Generationen geschaffen“ beginnt E. Sylvester Vizis Erinnerung, des ehemaligen Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, an die ’56-er Geschehnisse.

Der Professor betont in seinem Schreiben, dass „die Ungarische Revolution am 23. Oktober 1956 vielleicht der europäischste Moment der jüngsten Vergangenheit war: sie bewies, dass der Freiheitsdrang der europäischen Menschen nie verschwindet.“

Vizi zitiert den weltberühmten französischen Schriftsteller, den mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichneten Francois Mauriac, der über die Tapferkeit der Ungarn folgendes sagte:

Wenn die stärkere Seite bis auf die Knochen unmenschlich ist, dann kann es vorkommen, dass der Ablauf der Geschichte durch den Willen der schwächeren Seite bestimmt wird

Und es ist tatsächlich wahr, so Vizi, dass die Studenten aus Szeged, Pécs und Pest wegen der unmenschlichen Natur des Totalitarismus sowjetischen Typs den nötigen Mut hatten, sich der stärksten Weltmacht zu widersetzen. „Darüber hinaus opferten sie ihr Leben für die ewige Freiheitsliebe der Europäer“ fügt der Professor hinzu.

„Trotz der vielen Schwierigkeiten in seiner Geschichte ist Ungarn immer wie ein Phönix aus der Asche auferstanden“ – ungarisch-amerikanische Designerin Anikó Gáal Schott
„Trotz der vielen Schwierigkeiten in seiner Geschichte ist Ungarn immer wie ein Phönix aus der Asche auferstanden“ – ungarisch-amerikanische Designerin Anikó Gáal Schott

Mein Freundeskreis empfindet es oft als Wunder, dass Ungarn trotz der vielen Schwierigkeiten in seiner Geschichte immer wieder wie ein Phönix aus der Asche auferstanden ist.Weiterlesen

(Vizi wurde im Jahr 1956 Mitglied des „Bataillons der Nationalgarde“ der Universität in Pécs (Fünfkirchen), das von einem Studenten im fünften Studienjahr geführt wurde. Sie sammelten in Pécs und den umliegenden Dörfern Lebensmittel für die Kämpfenden in Budapest und transportierten sie unter bewaffneter Eskorte in die Hauptstadt)

Der ungarische Freiheitskampf war von der Roten Armee in einem Meer von Blut niedergeschlagen worden. Die vielen tausend Toten der ungarischen Revolution und die nach der Revolution zum Tode verurteilten und hingerichteten Menschen waren das moralische Stalingrad des Weltbolschewismus

so Vizi.

Weiterhin zitiert er den russischen Dichter und Schriftsteller Boris Pasternak (International bekannt ist er vor allem durch seinen Roman Doktor Schiwago. 1958 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen, den er jedoch aus politischen Gründen nicht annehmen konnte. – Red.). Als Pasternak von dem grausamen Auftreten gegenüber den ungarischen Freiheitskämpfern erfuhr, sandte er eine Postkarte an den ungarischen Schriftsteller Gyula Illyés, der eines der erschütternden Gedichte über die Revolution mit dem Titel „Ein Satz über die Tyrannei” verfasste. Der Russe schrieb an Illyés:

Mich betrübt und verblüfft die unmenschliche Grausamkeit, von der wir glaubten, dass sie schon samt und sonders der Vergangenheit angehört. Wie demütigend ist es, dass sich derartige Allmacht der Bosheit durch das Gute überhaupt nicht einschränken lässt!

Nicht nur Pasternak, sondern auch der größte Teil der europäischen Intelligenz war von den Ereignissen betroffen, macht Vizi aufmerksam und fügt hinzu, dass später die europäische Geschichte des Kommunismus zu Ende gehen konnte, weil die überwiegende Mehrheit der europäischen Intelligenz gerade in diesen Wochen ihren Glauben an den Kommunismus verloren hatte.

„Der Großfamilie, der Nation, muss man dienen” - INTERVIEW mit András Smuk, Träger des "Ferund von Ungarn" Preises
„Der Großfamilie, der Nation, muss man dienen” - INTERVIEW mit András Smuk, Träger des

1956. Nach 4 Jahren kehrt der Familienvater unerwartet zu seinen Kindern und zu seiner Ehefrau zurück, nachdem er 1952 aus Ungarn nach Österreich geflohen war. András Smuk, ist damals 9 Jahre alt. Vielleicht hat ihn dieses Familienschicksal bestärkt, sich für das Ungarntum einzusetzen. Weiterlesen

„Zu dieser Zeit schrieb Albert Camus in seinem Essay „Blut der Ungarn”: „Es ist sehr schwer, dieser vielen Opfer würdig zu sein. Aber wir müssen es versuchen. Wir sollten unsere Auseinandersetzungen vergessen, unsere Fehler überprüfen, unsere Anstrengungen und unsere Solidarität vervielfachen als Bewohner des europäischen Kontinents, der sich schließlich vereinigen wird.”

Dann macht der Professor einen Zeitsprung zum Prager Frühling 1968 sowie zum Paneuropäischen Picknick, als „nach dramatischen Tagen die ungarische Grenze für Deutsche aus der damaligen DDR geöffnet wurde“, die Berliner Mauer fiel. Deutschland wurde wiedervereinigt und Ungarn wurde Mitglied der NATO und der Europäischen Union.

Niemand glaubte, dass das Rad der Geschichte so einfach vorwärts gedreht werden könnte und dass Francois Mauriac Recht haben würde: Alle historischen Taten, die durch das Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit motiviert sind, werden nach einer Weile universell, genauso, wie die wissenschaftlichen Anstrengungen zugunsten der Menschheit allmählich zu internationalen Gütern werden.

Laut Vizi „haben die ungarischen Revolutionen ein eigenartiges Schicksal“, da auf die Todesstille nach 1848-49, der Ausgleich und eine reiche, prosperierende Epoche folgten, auch wenn sich viele unter ihnen auch Kossuth mit dem Geschehenen nicht aussöhnen konnten. (Lajos Kossuth war Politiker und in den Jahren 1848/49 einer der Anführer der Ungarischen Unabhängigkeitserhebung gegen die Habsburger Herrschaft. Auch nach der Niederschlagung der Revolution setzte er sich im Exil bis zu seinem Tod für die Unabhängigkeit Ungarns ein. Bis in die Gegenwart gilt Kossuth als ungarischer Nationalheld – Anm. der Red.) 

Was die Zeit nach der Niederschlagung der 1956-er Revolution betrifft, ist der Professor der Meinung, dass sich in den 1970-er/80-er Jahren auch in Ungarn eine sozusagen konsolidierte Epoche entwickelte. Doch waren diese, so Vizi, keine „glücklichen Friedensjahre” wie am Ende des 19. Jahrhunderts, „weil alle physischen und seelischen Leiden der erstickten Revolution in den 60-er, 70-er, 80-er Jahren vorzufinden waren.

Während der Kádár-Regime flohen mehr als 200.000 unserer Landsleute aus dem Land und verließen ihre Heimat. Außerdem verbitterte vielen das Leben, dass über 3000 Menschen den Kämpfen zum Opfer fielen, und 229 Märtyrer während der Vergeltungen hingerichtet wurden. Außerdem wurden mehr als 4500 Menschen ins Gefängnis geschlossen, viele wurden ohne ein amtliches Verfahren verschleppt, geistig und körperlich zugrunde gerichtet.

Kaum zu glauben, aber die Zahl der Vergeltungen in Ungarn nach 1956 war viel größer als die Zahl der Hingerichteten in Deutschland nach dem II. Weltkrieg

Vizi fuhr fort und sagt, dass auch die Jahre ab 1957 durch eine Vergeltungswelle gekennzeichnet waren: viele Märtyrer wurden zum Tod am Galgen verurteilt und in unbezeichneten Gräbern bestattet, wieder andere Tausende schmachteten lange Jahre hindurch in den Gefängnissen. Zu diesem Zeitabschnitt gehörte auch der Märtyrertod von Imre Nagy.

Fact

Drei Tage nachdem Ungarns Ministerpräsident Imre Nagy am 1. November 1956 die Neutralität des Landes proklamiert und die Mitgliedschaft seines Landes im Warschauer Pakt aufgekündigt hatte, rückten sowjetische Panzerverbände in Ungarn ein und schlugen die Revolution blutig nieder. Premier Nagy musste in die jugoslawische Botschaft fliehen. Später hat ihm der neue Regierungschef János Kádár Straffreiheit zugesichert, doch wurde er vom KGB verhaftet und nach Rumänien in Isolationshaft deportiert. Erst anderthalb Jahre später wurde er in einem geheimen Prozess verurteilt.

Laut E. Sylvester Vizi bezahlte das Land „einen sehr hohen Preis“ für die relative Ruhe, für die, durch die Wende eingetroffene Freiheit, und die Achtung der Welt. „Das lässt sich auch durch die Rede von US-Präsident John F. Kennedy zur Gedenkfeier am 23. Oktober 1960 veranschaulichen“: 

Der 23. Oktober 1956 wird im Tagebuch der freien Menschen und Nationen ewig vorhanden sein. Das war der Tag des Mutes, des Selbstbewusstseins und des Sieges. Von Anfang der Geschichte der Menschheit an war kein anderer Tag, der klarer bewiesen hätte, welchen unstillbaren Anspruch der Mensch auf die Freiheit hat- ohne zu berücksichtigen, wie klein die Chance zum Erfolg ist, und wie viele Opfer es verlangt

(In Originalsprache: „October 23rd, 1956 is a day that will forever live in the annals of Free Men and Free Nations. It was a day of courage, conscience and triumph. No other day since history began has shown more clearly the eternal unquenchability of man’s desire to be free, whatever the odds against success, whatever the sacrifice required.”)

Der Professor gedenkt auch den „Pester Jungen” („Pesti srácok”), „die ihr junges Leben in den Kämpfen waghalsig riskierten. „Wir sollten auch der von den Femegerichten zum Tode verurteilten Opfer gedenken, unter denen es viele Jungarbeiter gab. Welch eine bittere Ironie verbirgt sich darin, dass sie alle für die Arbeiterschaft kämpften, während ihnen zur Zeit der Vergeltung das Leben eine angebliche „Arbeitermacht” genommen hat.“

Was die heutige Situation eines einheitlichen Europas betrifft: seinerzeit war ein Europa unter einem gemeinsamen Dach noch ein Traum, aber heute ist es das nicht mehr. Es ist Realität.

Wir sind in der EU, wir sind frei und jetzt hängt alles von uns ab

so der Professor, der zugleich auch betont, dass er als Arzt, Gehirnforscher und als Vorsitzender der Stiftung „Freunde von Ungarn“ der Auffassung sei, dass „alles im Leben von der Gesinnung und der Mentalität der Menschen abhängt“, eben deswegen hält er es für „unausweichlich“, dass man an seine Vergangenheit erinnert.

Warum muss man sich erinnern? – stellt Vizi die Frage und beantwortet sie auch: „Um aus der Vergangenheit lernen zu können. „Sine preteritis nulla futura“ sagt man lateinisch. Das heiβt, ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft. Und heute werden wir uns erinnern. Wir erinnern uns an die Vergangenheit. Wir dürfen nie vergessen, dass die Freiheit so geboren ist, dass Blut auf den Budapester Straßen geflossen ist”.

Schließlich betont der Professor in seinem Schreiben, dass das ungarische Volk in seiner tausendjährigen Geschichte seine Freiheitsliebe mehrmals unter Beweis gestellt hat, doch war das im Jahr 1956 beispiellos, als es sich „als ein kleines Land, aber als eine große Nation“ dem Sowjetimperium entgegenstellte. „Niemand kann uns die Wahrheit dieser Aussage aberkennen. Ungarn verdient Gerechtigkeit!schloss E. Sylvester Vizi seine Gedanken.