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Ungarndeutsche in Alsógalla „Wer jetzt zieht nach Ungarnland, dem blüht die goldene Zeit“

Judit Szlovák 2022.04.18.

Hunderttausende Deutsche verließen im 18. Jahrhundert ihre Heimat. Insbesondere aus dem deutschen Südwesten – aus den Landschaften Schwaben und Württemberg – zog ein großer Teil der Auswanderer in das historische Ungarn. Es waren begehrte Siedler, die den dünn besiedelten, zuvor von den Türken eroberten Raum neu besiedeln sollten.

Von allen Minderheiten in Ungarn ist die deutsche die zweitgrößte. (Nach dem offiziellen Ergebnis der ungarischen Volkszählung 2011 bekannten sich 131.951 Bürger zur ungarndeutschen Nationalität. Die Ungarndeutschen leben verstreut im ganzen Land, mit Schwerpunkten in Transdanubien (Zentrum: Fünfkirchen/Pécs) und im Ofner Bergland (rund um Budapest). Aber wie, wann und vor allem warum kamen sie gerade nach Ungarn? Um auf die Frage eine Antwort zu finden, müssen wir bis in das 17. Jahrhundert zurückgehen.

Nach dem Ende der osmanischen Besetzung und der Rückeroberung der Burg von Buda (1686) befanden sich die ungarischen Ländereien in einem sehr schlechten, zerrütteten Zustand. Auf ihrem Rückzug haben die Türken viele Leute mitgenommen und brannten das Land nieder. Damit war die Bevölkerung im Lande auf die Hälfte gesunken. Ungarn war gezwungen und darauf angewiesen, Siedler von außerhalb des Landes zu holen. Geschichtliche Gründe, wie zum Beispiel die Heirat des ungarischen Königs Stephan des Heiligen mit Gisella (von Bayern) zur Zeit der Staatsgründung, öffneten das Land den Deutschen.

Die Einsiedlung erfolgte schließlich in drei Phasen. Wichtige Rollen spielten König Karl III. in der ersten Phase, Maria Theresia in der zweiten und ihr Sohn König Joseph II (Kaiser des Heiligen-Römischen-Reiches) in der dritten Phase.

Die ersten deutschen Siedler kommen an

Die Straßen in Ungarn waren seit Anbeginn der Welt unpassierbar, und der einzige Weg führte über das Wasser. Aus diesem Grund kamen die meisten Siedler aus den deutschen Regionen über die Donau. Sie kamen, wie sie konnten, auf kleinen Booten und Kähnen, wie z.B. den Ulmer Schachteln, die in den Strudeln des Flusses sehr schwer manövrierfähig waren – und dann, als sie angekommen waren, trockneten sie ihre Flöße und zündeten sie an.

"Von Pesth über Ofen bis nach Wudersch – auf den Spuren des deutschen Erbes in Ungarn"

„In der Geschichte Ungarns und damit Budapests, kommt den auf dem Gebiet des Karpatenbeckens lebenden Deutschen eine wichtige Rolle zu. Aufzeichnungen zufolge kamen die ersten deutschsprachigen Siedler zusammen mit Königin Gisela in Ungarn an“ schrieb Kinga Fodor, vom Deutsch-Ungarischen Institut des Mathias Corvinus Collegium in einem historischen, farbigen Übersichtsartikel. Die Autorin fügt hinzu: „Im Laufe […]Weiterlesen

Da nur Familien umziehen durften, versuchten viele unterwegs Ehefrauen zu finden. Es dauerte etwa zwei Wochen, bis sie in Wien ankamen, wo sie ihr konkretes Reiseziel erfuhren, und die Kosten für die Reise nach Buda erstattet bekamen. Obwohl die Legende besagt, dass die Deutschen mit leeren Händen kamen, brachten viele tatsächlich ein beträchtliches Startkapital aus dem Verkauf ihres heimischen Vermögens mit.

Fact

Der Begriff Ungarndeutsche ist ein Sammelbegriff für die deutschstämmigen bzw. deutschsprachigen Bewohner Ungarns. Heute werden vorwiegend diejenigen so genannt, die sich zu den Donauschwaben in den bestehenden oder historischen Grenzen Ungarns zählen.

Das Ungarnland ist es reischtste Land
Dort wachts viel Wein und „Treidt“.
Die Schiffen stehen schon bereit,
Dort gibt’s viel Viech, Geflüg‘ und Tier.
Und Taglang ist die Weid,
Wer jetzt zieht nach Ungarnland
Dem blüht die goldene Zeit.

(Quelle: Stadtarchiv Darmstadt)

In unserem Schreiben stellen wir Ihnen die Ungarndeutschen im Galla-Tal (Galla-völgy), bzw. in den Vorgängersiedlungen der mittelungarischen Stadt Tatabánya – Untergalla (Alsógalla) und Obergalla (Felsőgalla) – vor.

Tatabánya ist eine Stadt mit Komitatsrecht und Sitz im Komitat Komárom-Esztergom im Nordwesten Ungarns mit rund 70.000 Einwohnern. Die Stadt liegt 52 km westlich von Budapest. Die vier Gemeinden der Stadt – Obergalla, Untergalla, Bánhida und Ófalu – wurden 1947 zur Stadt Tatabánya vereinigt.

Im Jahr 1733 warb Graf József Eszterházy* deutsche Siedler in dem zum Bistum Würzburg gehörenden Gebiet zwischen Nürnberg und Darmstadt an. Hier wohnten Franken und ihre Nachkommen. Die deutschen Vorfahren wurden auf 5 Grundstücken in Alsógalla angesiedelt – von ihnen stammt die Bevölkerung des Dorfes ab. Im Heilbronner Archiv, Urkunde Nr. 7, ist vermerkt, dass die Familien Kiprich, Klausz und Schlögl aus Hessen nach Heilbronn kamen und sich dort für kurze Zeit aufhielten. Von dort segelten sie zu einer Brücke namens „Schiffenbrücke“.

Sie fuhren mit der Kutsche nach Ulm weiter, und dann donauabwärts in ihre neue Heimat Ungarn. Diese deutschen Familien begannen, das wilde Land zu kultivieren, und haben sich ein neues Leben erschaffen. Es war eine schwierige Aufgabe, aber 1766 konnten schon beide Gemeinden (Felsőgalla und Alsógalla) auf ihre neue Kirche und die Schule stolz sein.

*Graf József Eszterházy: Landrichter in Ungarn, der das Komitat Komárom im 18. Jahrhundert wiederaufbaute und besiedelte

Im Jahre 1896 brachte die Entdeckung eines Holzkohlefeldes am Rande von Alsógalla eine bedeutende Veränderung im Leben der deutschen Gemeinschaft.

Der Zuzug ungarischer Arbeitskräfte in die Bergwerke veränderte die Zusammensetzung der Bevölkerung grundlegend und machte die Deutschen zu einer Minderheit. Ungeachtet der ungarischen Mehrheit war Deutsch jedoch bis zur Wende des 20. Jahrhunderts die gesprochene Sprache im Dorf. Die zwischenzeitlich erlassenen Magyarisierungsgesetze veränderten zwar den Sprachgebrauch, konnten den Deutschen aber ihre Identität nicht nehmen. Nur die Repressalien nach dem Zweiten Weltkrieg, die große deutsche Vertreibung im Jahre 1946 und die Verfolgungen vor den Vindikationskommissionen haben sie psychisch so traumatisiert, dass sie sich selbst zu Hause kaum noch trauten, schwäbisch zu sprechen.

Fact

Am 19. Januar 1946 verließ der erste Zug mit deutschen Heimatvertriebenen Ungarn. Während der ersten Welle wurden die deutschen Einwohner der Dörfer rund um Budapest ausgewiesen, gefolgt von den Regionen Donau-Theiß-Raum und Tiszántúl (Landschaft östlich der Theiß).

Tag des Gedenkens: Vor 76 Jahren begann die Vertreibung der Ungarndeutschen
Tag des Gedenkens: Vor 76 Jahren begann die Vertreibung der Ungarndeutschen

Das ungarische Parlament entschied 2012 darüber, dass jedes Jahr an diesem Tag der tragischen Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg gedacht werden soll.Weiterlesen

Zum Gedenken daran erklärte das ungarische Parlament am 17. Dezember 2013 den 19. Januar zum Tag des Gedenkens an die Evakuierung und Vertreibung der Deutschen in Ungarn. In seinem Beschluss unterstreicht das Parlament, dass es das Andenken all derer würdigt, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Grundlage der ungerechten Anschuldigung und des Prinzips der Kollektivschuld verfolgt und deportiert wurden.

Die tatsächlichen Vertreibungen betrafen jedoch nur in geringem Maße Ober- und Untergalla. Der Grund dafür ist einfach: Die meisten Schwaben waren Bergleute, und die wurden nach dem Krieg dringend gebraucht. Ihre Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Interessen wurden in den 1950er und 1960er Jahren erheblich eingeschränkt, doch im Gegensatz zu anderen Siedlungen in Ungarn gelang es den Deutschen von Tatabánya, sich der Assimilation zu entziehen. Es hat immer mutige Menschen unter ihnen gegeben, die es wagten, sich zu ihrer nationalen Identität zu bekennen und der Welt die Stirn zu bieten.

Tag des Gedenkens: Vor 76 Jahren begann die Vertreibung der Ungarndeutschen
Tag des Gedenkens: Vor 76 Jahren begann die Vertreibung der Ungarndeutschen

Das ungarische Parlament entschied 2012 darüber, dass jedes Jahr an diesem Tag der tragischen Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg gedacht werden soll.Weiterlesen

1990 begann eine kleine Gruppe von Dorfbewohnern mit der Bergung und Rettung der Schätze der Siedlung. Noch in diesem Jahr wurde der Freundeskreis von Untergalla aus den Mitgliedern des Seniorenklubs der Deutsche Nationalitäten-Singchor, zwei Jahre später die Tanzgruppe gegründet.

Der Freundeskreis von Untergalla machte den Namen der Siedlung in den vergangenen 30 Jahren im ganzen Land bekannt, sie pflegten außerdem auch Auslandsbeziehungen. Aus einer Handvoll Menschen wurde ein Verein mit mehr als 100 Mitgliedern. Den Mitgliedern des Chores schlossen sich immer mehr junge Leute an, und dank der eifrigen Sammelarbeit wurde ihr Notenheft immer dicker. Es wurde mit Liedern aus der Ortschaft, aus der kleineren und größeren Umgebung bereichert. Die Tanzgruppe begann auch begeistert mit der Traditionspflege, sie eigneten sich immer wieder neue Choreographien an, sie hatten immer mehr Auftritte, und genauso wie der Chor kehrten sie von den Qualifikationstreffen mit schönen Auszeichnungen und Preisen zurück.

Im Laufe der Jahre wurde der Deutsche Nationalitäten-Singchor durch seine Beziehungen im In- und Ausland zu zahlreichen Auftritten eingeladen. Seine bisherige Arbeit wurde auf zwei Audiokassetten und einer CD aufgenommen. Von 1990 bis 1995 wurde der Chor von der Lehrerin Ödönné Börgöndy, von 1995 bis 2013 von Frau Jánosné Neukum und von 2013 bis 2020 von Dr. József Kis (ehemaliger Hausarzt von Tatabánya) geleitet. Die derzeitige Leiterin des Chors ist Matild Papné Tisch und sein treuer Begleiter auf dem Akkordeon Dr. József Kis. 

Quelle: Dr. József Kis

Die stabile Arbeit des Freundeskreises zeigt sich u.a. darin, dass es seit der Gründung nur einen einzigen Führungswechsel gab, und zwar im Jahre 2015, als György Frank, der den Verband 25 Jahre lang geleitet hatte, ausschied, und János Schamberger den Vorsitz übernahm. Der Verein verfolgt treu die Ziele, die er sich bei seiner Gründung gesetzt hat: die Traditionen von Alsógalla zu bewahren und sie an die jungen Generationen weiterzugeben. Sie halten es für ihre wichtige Aufgabe, die Sprache und Kultur zu pflegen und neben den eigenen Programmen auch die Auftritte der Tanzgruppe und des Singchors zu organisieren.


Ungarndeutsche Volksbräuche in Alsógalla

Viele deutsch-ungarische Volksbräuche haben sich in Alsógalla verbreitet und überlebt, darunter auch einige Osterbräuche.

Karfreitagratschen

Da die Glocken in der Karwoche, am Donnerstag, nach Rom „fliegen“, hatte man statt Glockengeläut mit hölzernen Knarren geratscht. Das Ratschen taten die Schuljungen, sie gingen in Gruppen von 8-10 Personen vom oberen Dorf zum unteren Dorf. Einer von den Jungen ratschte, die anderen sagten Sprüche und verkündeten die Zeit.

Karfreitag am Morgen:
„Wir ratschen, wir ratschen den englischen Gruss, was ein jeder Christ beten muss. Wir fallen nieder auf unsere Knie und beten drei Vaterunser und Ave Marie.“ Am Ende des Dorfes, beim Friedhof angekommen beteten sie drei Vaterunser, dann ratschen sie noch dreimal zur heiligen Messe: „Wir ratschen, wir ratschen zum ersten Mal, ruf zur Messe!“ Nach einer halben Stunde: „Wir ratschen, wir ratschen zum zweiten Mal, ruf zur Messe!“ Der letzte Ruf zur Messe: „Wir ratschen, wir ratschen zum Anfang der Messe!“
Mittags wurde auch geratscht: „Wir ratschen, wir ratschen zum Herrn die zwölfte Stund‘, wir loben den Gott von Herzen und Mund.“ Zum Abendgebet lautete der Text: Wir ratschen, wir ratschen zum Abendgebet, wir danken für den traurigen Tag zu überleben, wir beten um Gottes Segen.“
Am Morgen des Karsamstags versammelten sich die Jungen in der Schule, sie nahmen einen Weidenkorb mit, um die Ostereier hineinzulegen. Sie gingen von Haus zu Haus, wo die Ratschbuben mit bunten Eiern belohnt wurden. Der Leiter der Gruppe wünschte der Familie gesegnete Ostern. Die bunten Eier teilten sie untereinander. Wenn ein paar übrig blieben, bekam sie der Junge als Zugabe – für seinen „Vortrag“ der Sprüche.

Wetterregeln aus dem Bauernleben

„Wenn Matthias kommt vorbei, legt die Gans das erste Ei“

„Tanzen im Jänner die Mucken, so muss der Bauer nach Futter gucken.“

„Ist Josefi klar und rein, wird eine reiche Ernte sein.“

„Trockener März, nasser April und kühler Mai: verheißen Obst, Most und Heu.“

„Im Frühjahr viel Nebel, im Sommer viel Regen.“

Quelle: (Martin) Schlégl József: Geschichte und Traditionen meines Heimatlandes, Alsógalla 1251-1947

Das József-Attila-Kulturzentrum ist der Gemeinschaftsraum und das Kulturzentrum der deutschen Gemeinde in Alsógalla. Das in den 1930er Jahren erbaute Haus diente ursprünglich als Gaststätte und Kneipe, war aber schon damals ein wichtiges Gemeindezentrum für die Schwaben von Alsógalla. Obwohl das Haus in den vergangenen Jahrzehnten mehrmals umgestaltet und umstrukturiert wurde, ist es stets im Dienst der Traditionen der Ungarndeutschen geblieben. Und vielleicht ist das der Grund, warum die Einrichtung so lange überlebt hat, dank des Engagements und des Gemeinschaftssinns der Einwohner von Alsógalla.

Auf diese Einigkeit sollten alle stolz sein!

Untergalla – mein Heimatort – Gedicht von Josef Schlégl

Auf dieser Welt ist das meine liebste Siedlung.
Hier finde ich meine Ruhe und Erholung.
Hier hat mich mein Mutter zur Welt gebracht.
Das ist meine Heimat in allerschönster Pracht.

Eichenwälder umarmen diesen Ort,
Ich liebe ihn, will von hier nicht fort.
Der Galla-bach plätschert stets in der Au…
Hier lebe ich wohl mit meiner Frau.

Auf unser Heimat hat die Sonne lange nicht gescheint,
Schwarze Wolken bedecken lang das Firmament.
Das Gebet mit Hoffnung haben wir nicht aufgegeben,
Gott mit seiner Barmherzigkeit gibt uns seinen Segen.

Schliesst einst der Tod meine Augen zu,
Hier möcht‘ ich finden meine letzte Ruh‘!
Meine Leiche soll diese Erde bedecken,
Bis mich die Posaunen erwecken!

 Untergalla, 25. April, 1982. Josef Schlégl

Quellen: Bihari Zoltán: Mi svábok (Geschichten über die Ungarndeutschen), https://www.goethe.de/ins/hu/de/spr/eng/dtm.html, https://mult-kor.hu/hiaba-tiltakoztak-sokan-tbb-tizezer-magyarorszagi-nemetet-telepitettek-ki-20200119, https://hu.wikipedia.org, Bilder: Facebook: Alsógallai Baráti Egyesület, Matild Papné Tisch, Dr. József Kis