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„Viele Deutsche aber mögen uns Ungarn” – Interview mit der Präsidentin des Ungarischen Vereins in Hamburg

Ungarn Heute 2021.07.04.

1979 wanderte sie aus nach Hamburg. Sie sagt, dass ihr am meisten die ungarischen Sommer fehlen: an das regnerische norddeutsche Wetter konnte sie sich am Anfang nur schwer gewöhnen. Heute ist sie schon Leiter oder Treuhänder von mehreren ungarischen Organisationen in Deutschland, für ihre Arbeit hat sie den „Freund von Ungarn Preis“ erhalten. In der Nominierung steht unter anderem, dass „sie immer da ist, wo ein Ungar in Deutschland in Schwierigkeiten gerät”. Ich habe Annamaria Friedrich-Ireghy auch gefragt, warum die deutschen Nachrichten über unsere Heimat einseitig negativ berichten und ob sie plant, irgendwann nach Hause nach Budapest zu ziehen. Da wir alte Bekannte sind, haben wir uns während unserem Gespräch geduzt. Interview.

Nach 10 Monaten konntest du wieder nach Ungarn reisen. Wie fühlst du dich wieder Zuhause zu sein?

Unbeschreiblich und gleichzeitig unglaublich. Als ich losgefahren bin, habe ich noch gesagt, dass ich es erst glaube, wenn ich es geschafft habe nach Hause zu kommen, erst, wenn ich wirklich hier bin.

War das Reisen wegen der Pandemie nicht schwer?

Überhaupt nicht. Abgesehen davon, dass ein Bekannter mir in paar Tage vor der Abfahrt gesagt hat, dass ich noch ein zusätzliches Papier vom Hausarzt besorgen muss. Mit dem internationalen gelben Impfheft konnte ich problemlos einreisen, sie waren sehr nett, alles lief glatt. Gleich nach der Ankunft habe ich die Anfrage für die Beglaubigung des Impfausweises ausgefüllt. Meine ungarische Immunitätskarte kam sehr schnell an.

Unsere deutschen Leser warten schon sehr darauf, dass sie wieder nach Ungarn reisen können. Welche Erfahrungen hast du aus deiner Umgebung? Gab oder gibt es Ungeduld in Bezug auf die ungarischen Reisebedingungen? 

Diese Frage ist auch bei uns gerade aktuell: Mein Ehemann ist deutscher Staatsbürger. Er kommt ein paar Tage später und muss unsere Eheurkunde vorzeigen. Aber wir haben auch nahe Bekannte, welche als deutsch-ungarisches Paar zusammenleben aber nicht verheiratet sind. Sie wissen noch nicht, wie sie nach Ungarn kommen können. (Das Gespräch zeichneten wir am 21. Juni auf – Anmerkung der Redaktion)

„Grüner Pass“ der EU ab dem 1. Juli in Kraft
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Er ist in 27 EU-Mitgliedstaaten sowie in der Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island gültig.Weiterlesen

Wie haben die Deutschen das Coronavirus und die Quarantäne ertragen? Wir halten die Deutschen für ein sehr regelfolgendes, diszipliniertes Volk: Siehst du einen Unterschied in der Einstellung der beiden Länder?

In der Zeit des ersten Stillstands, als ich am 5. März von hier aus zurückgefahren bin, brach die Epidemie aus. Auch ich habe mich ein paar Monate, bis Juni, von allem zurückgezogen. Damals hat noch jeder geglaubt, dass das Coronavirus schnell verschwinden würde und jeder war bis zum Schluss sehr diszipliniert. Danach kam der Sommer, die größere Freiheit. Was schwer war, dass jeder etwas Unbekanntem, nicht Sichtbarem gegenüberstand. Weder die Politiker noch die Virologen konnten sehen, wohin sich alles entwickeln wird. Natürlich neigt der Mensch dazu das zu glauben, was für ihn angenehmer ist, daher war der Sommer befreiter. Dann kam ein neuer, ein Herbst-, erst ein Teil- und dann von Dezember bis Mai ein kompletter Lockdown. Auch ich konnte nun nicht mehr nach Hause fliegen. Mein Mann konnte noch gerade so fahren, doch ich nicht mehr.

Natürlich hat er wunderschöne Fotos von dem glatten spiegelnden Wasser des Balatons geschickt und ich war genervt, weil ich nicht reisen konnte. Ich liebe den Balaton sehr… Am Ende war ich von August letzten Jahres bis jetzt, dem 12. Juni, nicht in Ungarn, doch nun bin ich endlich wieder Zuhause.

Vielleicht gab es in Deutschland mehr und heftigere Demonstrationen gegen den Lockdown. Man sieht jedoch an beiden Orten, dass die Epidemie für die jungen Menschen nicht mehr präsent ist, obwohl sich die Delta Variante ausbreitet.

Wir haben jetzt wieder Sommer, und du hast in unserem früheren Gespräch betont, dass, wenn du etwas nennen müsstest was dir aus Ungarn fehlt, das der Sommer ist. Warum ist der Sommer hier anders?

Obwohl die globale Erwärmung sich auf alles auswirkt, erinnere ich mich noch an meinen ersten Sommer in Hamburg im Jahr 1978. In den ersten drei Tagen war noch wunderschönes Wetter, so wie auch hier gerade. Aber schon am ersten Tag fand ich es merkwürdig, dass ich vergeblich nach Restaurant/Café Terrassen suchen musste, es gab sie nicht. Als es dann am dritten Tag angefangen hat zu regnen und die nächsten 40 Tage nicht aufhörte, habe ich es erst verstanden. Das Wetter ist seitdem besser geworden, aber es gibt immer noch nicht so einen Sommer wie hier. Und obwohl es in Hamburg jetzt eine große Hitze gab, hat mein Mann heute Morgen nur geschrieben: 10°, Regen (Das Gespräch zeichneten wir am 21. Juni auf – Anmerkung der Redaktion) In so einem Moment freue ich mich besonders, hier zu sein.

Welche Erinnerungen, außer dem Wetter, konntest du 1978 noch mitnehmen?

Der Balaton. Ich liebe den Balaton. Ich habe auch meinen Mann dort kennengelernt. Ich hatte gerade die Hotelfachschule abgeschlossen und war dort zu einem Praktikum, als wir uns trafen.

Dann war ich in der DDR um Deutsch zu lernen. Wir sprachen am Anfang englisch miteinander und ich wollte gerne Deutsch lernen. Der Balaton ist unbeschreiblich. Wir haben unser kleines Sommerreich in Alsóörs, kleines Haus, großes Grundstück, viel Arbeit. Obwohl es anderswo auch schöne Seen und Landschaften gibt, z.B. der Bodensee oder die Umgebung um Hamburg, ist der Balaton ganz anders. Wenn ich mich in Alsóörs raussetze, unter mir der See, das ist so eine riesige Freude!… Abgesehen von den Mücken natürlich…(lacht)

Mehr als 40 Jahre lebst du in Deutschland und man merkt keinen Akzent in deiner ungarischen Sprache. Wie konntest du deine Sprache so pflegen, vor allem neben einem deutschen Ehemann?

Einerseits fahre ich regelmäßig nach Hause. Andererseits war ich 22 Jahre alt, als ich aus Ungarn wegging. Hätte ich dann einen Akzent in meiner Muttersprache, würde ich mich sehr schämen. Die natürlichste Sache war auch, dass ich mit meinem Sohn ungarisch spreche. Ich verstehe Eltern nicht, die ihren Kindern diese Möglichkeit nehmen. Vor allem dann nicht, wenn die Mutter selbst die vorgegebene Fremdsprache nicht einmal perfekt beherrscht.

Anstatt ihre Muttersprache anständig zu lehren, sprechen sie mit den Kindern ein schlechtes deutsch

Dein Sohn spricht demzufolge gut ungarisch. Fühlt er sich auch verbunden mit dem Land?

Ja, natürlich, ich habe ungarisch mit ihm gesprochen und natürlich gab es eine Zeit, als er witzige zweisprachige Sätze sprach. Als er dann größer wurde und auch allein fliegen konnte, ist er oft zu seiner Großmutter gereist.

Sie haben Filme geschaut und er hat durch meine Mutter sehr viel von der ungarischen Kultur mitbekommen, aus der Literatur oder bei Reisen innerhalb des Landes. Die Verbindung zu den Wurzeln gab es also schon von klein auf

Später ist er hier auch auf die Uni gegangen, seinen Master hat er hier gemacht und dann arbeitete er bei einer deutschen Stiftung. Von da aus kam er nach Indien und lebt jetzt wieder in Deutschland. Einen Akzent hat er nicht, Germanismen schon.

„Es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens, Ungarisch zu lernen“
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Sein Vater lebte in Ungarn, seine Mutter stammt aus Österreich, er wurde in Toronto geboren. Er sprach bis zu seinem 17. Lebensjahr kein Ungarisch, als er begann, fernab des Landes mit Hilfe von ungarischen Sportzeitungen, die Sprache zu erlernen. Seit 3 Jahren pendelt er zwischen Budapest und Berlin, weil er sowohl für die „Deutsche Welle“ […]Weiterlesen

Plant er oder ihr irgendwann nach Ungarn zu ziehen? Ich weiß nicht, inwieweit das eine Option sein kann mit einem deutschen Ehemann…

Der deutsche Ehemann wäre schon vor Jahren weggezogen, aber egal wohin (lacht). Ich möchte das Leben mit Doppelwohnsitz nicht aufgeben.

Beide Länder haben ihre Vorteile, aber in Deutschland und auch in Ungarn gibt es vieles, was nervt. Doch da wo ich gerade bin, gibt es immer nur Freude und ich genieße das gegenwärtige Land. Aber, wenn ich sage, dass ich nach Hause fahre, dann meine ich immer Budapest. Mein Zuhause wird immer Budapest sein.

In unserem Gespräch geht es auch darum, dass du letztes Jahr eine Auszeichnung der „Freunde von Ungarn” Stiftung bekommen hast. Wegen der Epidemie wirst du den Preis erst in diesem September entgegen nehmen. In der Nominierung steht unter anderem, dass „du immer da bist, wo ein Ungar in Deutschland in Schwierigkeiten gerät”. Wo und wobei musstest du zuletzt helfen?

Während der Coronazeit ist das Leben zu einem absoluten Stillstand gekommen. Somit gab es auch keine Anfragen.

Bisher hat es so funktioniert, dass Ungarn, die Hilfe benötigten, oder die Polizei und Krankenhäuser, das Honorarkonsulat kontaktierten. Das Konsulat hat mich gerufen, als Präsidentin des Ungarischen Vereins in Hamburg. Meistens habe ich beim Dolmetschen geholfen

Zwei harte Fälle passierten noch vor der Corona Epidemie. Der erste war ein Student, sie hatten ihn nach einem Selbstmordversuch ins Krankenhaus eingeliefert. Ich war gerade auf einem Ausflug 30km von Hamburg entfernt. Ein Polizeiauto kam meinetwegen und brachte mich mit Sirenen bis nach Hamburg. Der zweite Fall war eine Prostituierte, die ihren fünf Monate alten toten Säugling nach einer Fehlgeburt sehen wollte. Ein Krankenhaus hat mich angerufen, 2 Tage habe ich mit einem fünf Monate alten verstorbenen Fötus in einem Zimmer verbracht…

Du bist in zahlreichen ungarischen Organisationen aktiv: Präsidentin des Ungarischen Vereins in Hamburg, Vize-Präsidentin der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft, und Mitglied des Vorstands von BUOD, die ungarischen Organisationen in Deutschland vereint. Welche Aufgaben erfüllen diese Organisationen?

Ich beginne mit dem Einfachsten und zugleich dem Stärksten. 1908 wurde die „Vereinigung der Hamburger Ungarn” gegründet.

Es wird gerne erzählt, dass Ungarn, die nach Amerika reisen wollten, sich so gut auf der Reeperbahn amüsiert hatten, dass sie ihr Schiff verpassten. Das hört sich natürlich gut an, aber tatsächlich haben ungarische Geschäftsleute einen ungarischen Club gegründet

Dieser wurde die „Vereinigung der Hamburger Ungarn“.  Wir versuchen, verschiedene Programme zu organisieren. Nebenbei versuchen wir den hier lebenden oder den hierher kommenden Ungarn zu helfen, neue Beziehungen aufzubauen. Als sich der Arbeitsmarkt mit dem EU-Beitritt öffnete, bestand auch ein größerer Bedarf.

Viele sind ausgewandert um zu arbeiten, zum Beispiel in einer Fleischfabrik. Oder Menschen mit schwerer körperlicher Arbeit, die oft in Schwierigkeiten geraten sind. Zum Beispiel haben sie ihren Lohn nicht erhalten oder zu wenig, oder sie arbeiteten unter unwürdigen Bedingungen, usw.

Das heißt, wir haben nicht nur kulturelle Aktivitäten. Aber in erster Linie sind wir doch ein Kulturverein. Wir halten Vorträge, organisieren Veranstaltungen, Grillabende im Stadtpark und bringen auch Vortragende aus Ungarn mit…

Ist dies in erster Linie für die Ungarn? Oder gibt es darin auch kleine Botschafter Aufgaben? Ist euer Ziel, das Image von Ungarn zu verbessern, und wenn ja, wie schwierig ist dieses Terrain?

Grenzwertig schwer. In den letzten Jahren ist das „Bis ich aufgebe” schwer geworden. Vor allem, wenn es hier auch Ungarn gibt, die diese negativen Nachrichten über das Land verbreiten.

Ich habe eine Kollegin, die davon überzeugt ist, dass hier eine Diktatur herrscht. Und man kann sie nicht vom Gegenteil überzeugen

Ich bin schon froh darüber, wenn wir nicht in den Nachrichten erscheinen. Im Verein und auch privat versuchen wir alles zu geben: In Privatgesprächen, oder in Form von Vorträgen.

Uns verbindet nicht nur unsere Geschichte, auch unsere wirtschaftlichen Beziehungen sind bis zum heutigen Tag sehr eng. Ist es deiner Meinung nach ein allgemeiner Anti-Ungarismus oder nur der momentane politische Kurs?

Es geht nicht gegen Ungarn im Allgemeinen, aber es schlägt trotzdem zurück. Es geht eher gegen die politische Führung.

Es steckt sehr viel Unwahrheit darin, obwohl es manchmal vorkommt, dass wir den kritischen Angriffen Munition geben. Oft fragen wir uns, ob es sich lohnt zu kämpfen? Doch wir sagen, obwohl wir nicht wissen, ob es sich lohnt, dass wir weiter kämpfen

Aber viele Deutsche mögen uns auch. Nur um ein frisches Erlebnis zu teilen: Nach der Buchpräsentation der Ungarisch-Deutschen Organisation in Budapest, des Ungarisch-Deutschen Instituts für Europäische Zusammenarbeit, haben wir das ungarisch-deutsche Fußballspiel auf einem Großbildschirm verfolgt.

Ich war traurig und enttäuscht, dass die ungarische Mannschaft nach so einer Leistung trotzdem rausgefallen ist. Doch die Einstellung meiner deutschen Bekannten hat mir sehr gutgetan, wie sie die Leistung der Nationalmannschaft gewürdigt haben und wie sehr ihnen der unverdiente Abstieg leidtat. In der Nacht gab es viele Anrufe und Nachrichten

Mit einem sensationellen Spiel verabschiedet sich Ungarn vom Fußball-EM
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Nach 68 Minuten wäre Deutschland ausgeschieden, und Ungarn im Achtelfinale. Und was die Atmosphäre betraf: Die Ungarn hatten auch in München ein Heimspiel, dank der ungarischen Fans. Weiterlesen

Man kann vielleicht sagen, dass unsere Stiftung eine Inversion von eurer Vereinigung ist: wir versuchen von zu Hause aus die von Ungarn getrennten Ungarn zusammenzuhalten. Dieses Jahr ist die Stiftung „Freunde für Ungarn” 10 Jahre alt, in der du von Beginn an Mitglied bist. Was ist deiner Meinung nach die größte Leistung/Tugend der Organisation?

Es ist gut, dass auch hier eine Kommunikation mit den deutschen Mitgliedern stattfinden kann und dass wir unsere Erfahrungen teilen können.

Die Stiftung tut schon sehr viel, indem sie Nachrichtenseiten betreibt („Ungarn heute”, „Hungary today”). Sie versorgen die Menschen regelmäßig mit Informationen

Die größte Tugend außerdem ist meiner Meinung nach, das Ausgleichen der „ungarischen Spaltung” in der Gesellschaft.  Natürlich ist jede Gesellschaft gespalten, auch die deutsche oder die französische. Aber hier nimmt der öffentliche Diskurs das besser wahr. Die Stiftung stärkt den Zusammenhalt der Ungarn auf der ganzen Welt. Keiner von uns, keine ausländische ungarische Organisation, wäre zu so einem Welt umarmenden Zusammenhalt in der Lage.

(geschrieben von Zsófia Nagy-Vargha, übersetzt von Katharina Haffner, Fotos: Zita Merényi)