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„Ich musste innerhalb von Sekunden entscheiden, ob ich sie aufhalte oder nicht“

Ungarn Heute 2019.08.16.

19. August 1989. Er stand mit einer Waffe an der provisorischen Grenze in Sopronpuszta. Oberstleutnant Árpád Bella war für die Grenzpatrouille verantwortlich und wurde an diesem Tag zum „Paneuropäischen Picknick“ geschickt. Mit Zustimmung ungarischer und österreichischer Behörden sollte bei der Veranstaltung ein Grenztor symbolisch für drei Stunden geöffnet werden. Es war geplant, dass eine 100-köpfige ungarische Delegation im Rahmen des Picknicks um drei Uhr nachmittags die Grenze überquert und zum nächstgelegenen österreichischen Dorf geht, wo sie begrüßt wird und dann wieder nach Hause zurückkehrt. Um drei Uhr erschienen jedoch Hunderte von Ostdeutschen am Grenzzaun und schlugen ihn nieder, um endlich den westlichen Teil ihres Landes erreichen zu können. Davon erzählte uns Oberstleutnant Árpád Bella, der am Morgen des 19. August 1989 noch nicht ahnte, dass er an diesem Tag Geschichte schreiben würde.

Der 19. August ist Ihr Hochzeitstag. Sie konnten ihn wahrscheinlich vor 30 Jahren nicht wirklich feiern

Nein, das konnte ich nun wirklich nicht und ich war auch ziemlich wütend darüber (lacht). Der Plan des paneuropäischen Picknicks wäre gewesen, ein Tor an der Grenze zum Westen zu öffnen und einer ungarischen Delegation von 100 Personen zu gestatten, nach Sankt Margarethen im Burgenland zu gehen und von dort dann zurückzukommen. Erst vor 1-2 Tagen hatte man mich als Grenzbeamten für diesen Tag einberufen. Ich hatte eigentlich nicht vor, an einem Samstag zu arbeiten … Außerdem war der 19. August für uns eine Familienfeier. Dann dachte ich aber, es wird schon nicht so schlimm sein, dann gibt es anstatt einem festlichen Mittagessen eben ein festliches Abendessen. Die Grenze schließt um 6 Uhr, um 7 Uhr bin ich zu Hause. In der Zwischenzeit stellte sich allerdings heraus, dass ich früher in die Kaserne muss, weil ein Kollege aus Budapest damit beauftragt worden war, die Grenzen zu kontrollieren.

Die Umstände an der Grenze waren in diesem Moment bereits etwas unübersichtlich, es befanden sich schon einige DDR-Bürgern im Bereich der Westgrenze. Es bestand die Gefahr, dass es früher oder später zu einem Zusammenstoß mit ihnen kommen würde.

Von der Zentrale in Budapest wurden verschiedene Maßnahmen erlassen und der Kollege überprüfte, ob diese Maßnahmen am Grenzübergang in Sopron angekommen waren, vom Kommandanten verarbeitet worden waren und den Untergebenen ebenfalls bekannt waren oder nicht. Und natürlich überprüfte er auch den Ort des Picknicks. Ich hatte zu dem Zeitpunkt nicht einmal geahnt, dass ich bis spät in die Nacht bleiben müsste und an diesem Tag ein historisches Ereignis stattfinden würde.

Aber es gab einige, die genau das erwartet hatten. Außerdem erschienen Hunderte von Ostdeutschen, gleichzeitig sicherlich nicht zufällig an der Grenze. Haben Sie etwas davon gewusst, dass an der Grenze etwas „Ungewöhnliches“ passieren wird?

Auch die Organisatoren des Picknicks hatten keine Ahnung, was los war. Die Tatsache aber, dass sich viele Ostdeutsche im Grenzgebiet versammelt hatten, war selbst Kindern offensichtlich. Ich habe doch die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass das Picknick als Gelegenheit zum Überschreiten der Grenze genutzt wird, da ich einige Tage zuvor ein Telegramm erhalten hatte, in dem man uns warnte, dass Massen von Ostdeutschen an der Grenze erwartet würden. Gleichzeitig war die österreichische Grenze rund 350 km lang, sodass man diese Menschenmenge überall erwarten konnte. Als ich versuchte herauszufinden, woher diese Informationen stammten, wusste oder sagte niemand etwas. Alles, was sie sagten, war, dass ich am 19. rausgehen sollte. Als der Staatssekretär Imre Pozsgay gebeten wurde, der Schirmherr der Veranstaltung zu sein, meinte er zu dem Premierminister – wie er es einige Jahre später zugab –, dass es eine gute Idee sei, an der österreichisch-ungarischen Grenze ein Treffen zu organisieren. Die Veranstaltung könnte jedoch auch dazu genutzt werden, die Verhandlungen über das visumfreie Reisen zwischen den beiden Ländern zu beschleunigen.

Das heißt, sie wollten auch die Reaktion der DDR und Moskaus testen, um zu sehen, was sie sagen würden, wenn die ungarische Regierung ihre Westgrenze für die Bürger der DDR öffnen würde.

Jeder wusste, dass Ungarn in diesem Fall zu einem Faktor der Weltpolitik werden könnte. Sie wagten offiziell nicht, die Entscheidung zu treffen, aber ein „Test“ war praktisch um zu sehen, wie Moskau reagieren würde. Sollte die Antwort „nyet“ sein, könnten sie schlicht dem einfachen Mann vorwerfen, dass er seine Aufgabe nicht richtig erfüllt hat und die Grenze nicht richtig verteidigt hat.

Foto: Bálint Nagy

Sie hätten also auch beschuldigt werden können. War Ihnen bewusst, dass dieser historische Moment Ihnen Probleme bereiten könnte?

Ja, ich hatte Angst. Zuerst als statt der Delegation die Ostdeutschen erschienen. Es war eine fachspezifische und eine politische Entscheidung, wo sich der Ort der Feier befinden sollte. Es sollte so weit wie möglich von der Grenze entfernt sein, es sollte einen Draht geben, der demontiert werden kann und das Gebiet sollte auch geschützt werden können.

Die Organisatoren aus Debrecen hatten die Idee, rechts und links des Eisernen Vorhangs zu sitzen, um die Grenzenlosigkeit zu demonstrieren – eine gesamteuropäische Konzeption, das Grundprinzip der Habsburger. Das war eine gute Überlegung, denn dieser Ort war tatsächlich die Grenze zweier Weltanschauungen.

Die Grenze wurde durch zwei große Stacheldrahttore mit Holzrahmen geschlossen. Ein Stacheldrahttor mit Kette und Schloss – das lässt sich auf spektakuläre Weise öffnen, dachten die Soproner, wie im Theater.

Anstelle einer 100-köpfigen Delegation erschienen die Ostdeutschen. Sie sagten, das war der Moment, in dem Sie Angst bekamen.

Die Veranstaltung selbst wäre in Ordnung gewesen, da wir bereits mehrmals temporäre Grenzübergänge durchgeführt hatten. Es war egal, dass Hunderte von Menschen die Grenze überquerten – zu dieser Zeit war die Grenzkontrolle bereits eine Formalität für die Ungarn. Wir mussten keine Statistiken mehr schreiben. Sie hätten fast ohne Kontrolle rausgehen können. Den Plänen zufolge sollten 100 Menschen mit dem Bus an die Grenze kommen und die 7 Kilometer lange Strecke bis Sankt Margarethen im Burgenland zu Fuß zurücklegen, wo sie die Österreicher auf dem Hauptplatz treffen würden. Die Grenzlinie liegt auf einem Hügel. Von dort führt die Straße 100-120 Meter hinunter ins Tal. Wenn jemand auf dieser Straße kommt, sieht man zuerst den Kopf.

Wir sahen, wie die Köpfe ein paar Minuten vor 3 Uhr auftauchten … Wir hielten es für typisch Ungarn, dass der Bus bei der Ankunft der politischen Delegation kaputt gegangen war und sie zu Fuß kommen müssen. Was hätten wir sonst denken sollen?

Aber dann, als wir mehr von den Leuten sehen konnten, sahen wir kleine Kinder am Hals ihrer Eltern und Kinderwagen … Das war schon verdächtig. Auf der anderen Seite versammelten sich schon Leute, darunter auch Fernsehteams.

Foto: Kristóf Nagy

Glauben Sie, dass sie etwas wussten?

Sie wussten sicherlich etwas davon. Die Tatsache, dass so viele Deutsche gleichzeitig an der Grenze auftauchten, deutete darauf hin, dass dies ohne eine vorherige Organisation nicht möglich gewesen wäre. Es gab einen Ostdeutschen, der den Sommer mit einem westdeutschen Verwandten verbringen wollte, der ihn auf der anderen Seite der Grenze schon erwartete. Sie riefen einander zu.

Dann kam der Moment, als mir klar wurde, dass ich in eine sehr, sehr ernste Situation oder vielmehr in eine Falle geraten war. Dies geschah in ungefähr 20 Sekunden, so lange wie die Flüchtlinge brauchten, um den Grenzzaun zu erreichen.

Bis dahin mussten wir entscheiden, was wir tun sollten. Ich hatte sechs Leute. Drei warteten auf den Bus und ich hätte die Delegation mit drei Passbeamten überprüft. Als klar wurde, dass Ostdeutsche kommen, mussten wir uns entscheiden, ob wir uns ihnen entgegenstellen oder nicht.

Wie war die Menge? Friedlich? Geduldig? Es ist sicherlich beängstigend, wenn wir über Hunderte von Menschen sprechen, auch wenn sie sich friedlich versammelt hatten, doch näherten sie sich der Grenze immer mehr …

In Fachkreisen gelten diejenigen als friedlich, die nicht gewaltsam gegen die Exekutive vorgehen. Friedlich und ungehorsam sind zwei verschiedene Dinge. Wenn es zu einem Zusammenstoß zwischen der Streitmacht und einer Menschenmenge kommt, das heißt zwischen Unbewaffneten und Bewaffneten, endet dies normalerweise damit, dass Schüsse gefeuert werden. Ich dachte, wenn ich mit diesen Leuten die Konfrontation suche, muss ich es so weit wie möglich vom Tor entfernt tun, da diejenigen, die zwei Schritte von der Freiheit entfernt stehen, mehr Kraft aus der Hoffnung schöpfen können, die schon so nah ist. Um ihnen voraus zu sein, hätte ich rennen müssen. Wenn die Ostdeutschen uns mit Gewehren gesehen hätten, hätte sich das negativ auf ihre Stimmung ausgewirkt. Und wenn ich rechtzeitig dort angekommen wäre, hätte ich sie sicherlich nicht davon überzeugen können, die Grenze nicht zu überschreiten. Ich musste dafür sorgen, dass es nicht einmal zu Gerangel kam, denn wenn wir einen Warnschuss abgefeuert hätten, wäre Chaos ausgebrochen und die Situation wäre entgleist.

Der Durchburch. Foto: Tamás Lobenwein – Norbert Lobenwein, Stiftung Paneuropäisches Picknick ’89

Hätten Sie von Ihrer Waffe Gebrauch machen dürfen, wenn jemand ohne Erlaubnis die Grenze überschritten hätte?

Zu diesem Zeitpunkt war der sogenannte Schießbefehl nicht mehr in Kraft. Wenn ein illegaler Grenzgänger bis zum 30. November 1988 nach der Warnung des Grenzschutzbeamten nicht stehen blieb, konnten wir schon nach der ersten Warnung einen gezielten Schuss abgeben. Da unser Beitritt zur Genfer Konvention bereits zu erwarten war, wurde der Schießbefehl im Dezember abgeschafft. Die Angehörigen der Streitkräfte hatten jedoch weiterhin das Recht, im Falle eines gewaltsamen Angriffs Waffen einzusetzen, um einen angemessenen Rechtsschutz aufrecht zu erhalten. Zum Beispiel im Fall der Selbstverteidigung. Dann dachte ich natürlich: diese Leute kamen unbemerkt hierher und niemand hatte mich darüber im Vorhinein informiert. Wenn ich nicht eingreife, werden sie mit Sicherheit die Grenze überschreiten.

Ich habe in den letzten 30 Jahren viel darüber nachgedacht, dass – wenn die Entscheidung auf Regierungsebene gefällt wäre um die Sowjetunion herauszufordern – es sich ja um ein Staatsgeheimnis handelt und sie nicht hätten riskieren können, dass Informationen auf meine Ebene durchsickerten – deshalb beschlossen sie, nichts zu sagen.

Aber damit hat man auch riskiert, dass Sie eventuell zur Waffe greifen und dann der wäre der Durchbruch doch nicht friedlich gewesen. Damals war Miklós Németh Ministerpräsident. Er nimmt an jeder Gedenkfeier teil, genau wie Sie. Haben Sie ihm jemals diese Frage gestellt?

Miklós Németh sagte einmal in einer Presseerklärung, dass er dachte, dass ich das Problem lösen könne. Er erklärte auch, er habe zuvor dem Innenminister István Horváth befohlen, „keine Gewehrnester auf die Straße zu bringen“. Sie planten daher, keine Gewalt gegen die Ostdeutschen anzuwenden, und „István Horváth hat das verstanden“. Die Grenzpatrouille sollte einen ähnlichen Befehl erhalten, den selbst wir, konventionellen Soldaten verstanden hätten, die Information ging jedoch irgendwo zwischen Miklós Németh und unserem nationalen Hauptquartier verloren. Wir haben immer noch die Information, dass „während der Zeit des Grenzübertritts keine bewaffnete, uniformierte Person in einem Umkreis von 1 km anwesend sein kann.“ Es wurde dokumentiert und ich habe sogar eine Kopie für mich angefertigt, falls jemand mich für die Entscheidung verantwortlich machen sollte, so hätte ich etwas, um mich rechtfertigen zu können. Offensichtlich gab es ein Geheimdienstsystem, die Grenzschutzbeamten verfügten über ein eigenes Aufklärungsnetzwerk und das Innenministerium verfügte ebenfalls über eine geheime Stelle.

Wo sich so viele Menschen versammelten, waren diese Dienste sicherlich anwesend. Genau wie die STASI.

Als ich die ersten Köpfe an der Grenze sah, gingen mir viele Dinge durch den Kopf. Als wir die Ereignisse melden wollten, konnten wir nicht, weil weder der Bezirkskommandeur noch der Häuptling zur Verfügung standen.

Foto: Kristóf Nagy

Sie sagten, Sie hätten „Beweise“ aufbewahrt, sodass Sie sich rechtfertigen könnten, falls jemand Sie beschuldigen sollte. Wann fühlten Sie Erleichterung? Erinnern Sie sich noch an die ersten Momente, in denen Sie sich endlich ruhig gefühlt haben?

Ironischerweise wurde der Fall offiziell noch nicht abgeschlossen. Natürlich machte unser Chef eine Stunde später, als er an die Grenze kam, offiziell, dass ich derjenige war, der für die Situation verantwortlich bin. Aber er fragte nicht einmal, wie er helfen könnte, ob wir verletzt waren usw. Er sagte, er würde rechtliche Schritte gegen mich einleiten. Und die „Pflichtverletzung“ war ein Verbrechen, für das ich bis zu fünf Jahre Haft hätte bekommen können. Es war keine Lappalie.

Vermutlich machte der Fakt, dass Sie nicht genau wussten, wer über Sie urteilen würde in diesen politisch unsteten Zeiten, es nicht gerade einfacher.

Nun, nachdem tagelang und wochenlang nichts passiert war, schien es, dass Miklós Németh Gorbatschow glauben konnte, dass es kein weiteres ’56 geben dürfte. Was Gorbatschow im Juni mit Helmut Kohl verhandelte – dass jeder das Land verlassen durfte, in dem er sich aufhielt – schien endlich Wirklichkeit zu werden. Später stellte sich heraus, dass die Ungarn zu diesem Zeitpunkt nicht wussten, ob ein schwacher Gorbatschow eine starke Sowjetunion anführt oder ein starker Gorbatschow eine schwache Sowjetunion. Auch die ungarische Außenpolitik konnte die Situation nicht einschätzen. Aus diesem Grund betrachte ich es als unangebracht von Gyula Horn (der damalige Außenminister Ungarns – Red.), all die Anerkennung für seine damalige Rolle abzusahnen, während er stets dagegen war, die Ostdeutschen in den Westen zu entlassen. Alle waren einverstanden, außer Horn. Als es dann passierte, wurde er plötzlich der Vorkämpfer. Verdienste sind leichter anzurechnen als zu erreichen.

Dominieren positive oder eher negative Gefühle, wenn Sie den Gedenkort besuchen?

Es schwankt. Es hängt von meiner Stimmung und Tagesform ab. Die Tagespolitik und das Leben haben auch nach 30 Jahren immer noch Überraschungen zu bieten. Wie bei allen großen Ereignissen beurteilen viele Menschen die Geschehnisse ganz unterschiedlich. Viele Menschen denken, dass sie im Zentrum der Geschehnisse stünden.

Man streitet sich um Verdienste. Die Organisatoren, die Streitkräfte und auch die Politik kämpfen um die Anerkennung. Auch nach 30 Jahren gibt es keinen Frieden in dieser Hinsicht.

Es gibt zwei Lesungen der Ereignisse des Picknicks. Die Linken sagten von Anfang an, dass nichts passiert war, alles lief auf Befehl. Hier gab es keinen Durchbruch, die Leute gingen einfach über die Grenze. Sie haben wahrscheinlich einen anderen Film gesehen … Während die andere Seite sagt, dass die heldenhaften und mutigen Organisatoren den Durchbruch erzwangen. Der Chef, der das Verfahren gegen mich eingeleitet hatte, war bereits am 5. Jahrestag für sein humanes Verhalten beim Picknick geehrt worden. Also, wie gesagt, es ist ein Verdienstkrieg im Gange. Es ist furchtbar unterhaltsam, wenn jemand weiß, was genau passiert ist und es auch mit Dokumenten belegen kann.

Wollen Sie es nicht in einem Buch festhalten?

Ein Buch darüber ist in Arbeit, vielleicht wird es schon im November erscheinen.

(Fotos: Kristóf und Bálint Nagy, Tamás Lobenwein – Norbert Lobenwein, Stiftung Paneuropäisches Picknick ’89, Beitragsbild: Árpád Bella bei dem Durchbruch. Foto: Tamás Lobenwein – Norbert Lobenwein, Stiftung Paneuropäisches Picknick ’89)