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„Warum beschäftigt es so viele Ungarn, im Osten Geschwister zu finden?“ – Interview mit Historiker Balázs Ablonczy

Ungarn Heute 2022.05.31.

Als sich in der ungarischen Öffentlichkeit ab dem 19. Jahrhundert der Gedanke durchzusetzen begann, dass die Ungarn in ihrer Region sprachlich und kulturell allein waren, verbreitete sich auch die Idee, dass die Ungarn versuchen sollten, Verwandte und Freunde im Osten zu finden. Laut Historiker Balázs Ablonczy, dem Autor des Buches „In den Osten, Ungarn!”, spielte der Turanismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle in der ungarischen Politik und noch mehr in der Kultur. Nach Ungarns Niederlage im Ersten Weltkrieg wechselte die ideologische Welle der Ostöffnung vollständig von der Werbung für imperialistische Ambitionen zur „Ideologie der Frustration“. Ihre Spuren sind auch heute noch präsent, so sehr, dass Albonczy sagt, dass die Idee des Turanismus sogar im Programm der Orbán-Regierung zur „Ostöffnung“ zu finden ist.

In Ungarn existiert eine Legende, nach der die häufigen Streitigkeiten zwischen den Ungarn das Ergebnis eines alten Fluchs sind. Dieser Fluch wird der Turan-Fluch genannt. In welcher Beziehung steht dieser Begriff zum Turanismus?

Das Wort Turan leitet sich von einem der berühmtesten und an vielen Orten noch heute beliebten Werke der persischen Mythologie ab, der königlichen Legende Schāhnāme (Buch der Könige), das im 10. Jahrhundert geschrieben wurde. Darin herrscht zwischen den Königssöhnen, Iran und Turan, ein endloser, blutiger Bruderkrieg. Infolgedessen wurden die Völker, die im Land Turan nördlich des Iran lebten, Turan genannt.

Dagegen ist der verwendete Begriff „turanischer Fluch“, der den unversöhnlichen Gegensatz und die Fehde zwischen den Ungarn auszudrücken, eindeutig eine ungarische „Erfindung”. Die rhetorische Verwendung erfolgte erstmals 1901 von einem der beliebtesten ungarischen Schriftsteller seiner Zeit, Ferenc Herczeg, in einer Publikation in Vorbereitung auf die bevorstehenden Parlamentswahlen.

Mit ersterem hat Turanismus logischerweise viel, mit letzterem dagegen wenig zu tun. Ich habe den Turanismus für mich als die Ableitung der politischen und kulturellen Konsequenz aus dem Denken über den Osten und die ungarische Herkunft definiert. Wenn man sich also für die Dinge in Richtung des Orients interessiert, ist das an sich noch kein Turanismus. Falls man aber versucht, dies in die ungarische Gesellschaft zu übertragen, sprechen wir bereits von Turanismus. Ich versuche das immer mit einem vielleicht etwas ungeschickten Vergleich zu vermitteln, dass jemand, der sich für Manga interessiert und Sushi liebt, nicht unbedingt ein Turanist ist.

Wenn andererseits jemand sagt, dass wir Sushi deshalb in den Schulkantinen einführen sollten, weil unsere japanischen Brüder das auch essen, dann kann man schon so sehen davon ausgehen.

Mit anderen Worten, wie denken wir im öffentlichen Leben oder in der Kultur darüber, woher wir kommen und welche Auswirkungen das hat.

Fact

Die Tatsache, dass Turanismus in Ungarn als politisches Konzept erscheint, ist die Erfindung von Max Müller, einem britischen Gelehrten deutscher Abstammung, der die Sprachen der Welt einteilte (insgesamt auf historischer Grundlage) als semitische Sprachen, arische Sprachen und alle anderen als Nomadensprachen, einschließlich dem Ungarischen. Diese wurden die Sprachen von Turan. Besonders beliebt waren seine Ansichten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Die ideologischen Wurzeln des Turanismus gehen auf das Ende des 18. Jahrhunderts zurück, das Interesse gegenüber dem Orient intensivierte sich jedoch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Woher kommt der Ideenfluss des Turanismus? Welche Prozesse spielten bei seiner Entstehung eine Rolle?

Auch wenn nicht alles durch den Zeitgeist erfasst werden kann, war eines der Resultate der Idee des ungarischen Turanismus jedenfalls das liberale, im heutigen Sprachgebrauch sozialdarwinistische Medium der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Sinn dieser Theorie ist, dass, ähnlich wie im Kapitalismus – wo Unternehmen und Einzelpersonen konkurrieren – menschliche Gruppen, Nationen und Ideen auf die gleiche Weise konkurrieren und damit die Bedingungen für soziale Entwicklung schaffen.

Deshalb waren die Fragen, wer eine größere Flotte hat, eine größere Kolonie oder vielleicht eine größere industrielle Produktion, von besonderer Bedeutung. Nach dieser Logik ist jeder, der in diesem Wettbewerb zurückbleibt oder ausrutscht, zum Scheitern verurteilt.

Darüber hinaus wurde der Gedanke, dass wir in dieser Region mit unserer Sprache und Kultur ziemlich allein sind, immer mehr zum Ausdruck gebracht. Es setzte dem ungarischen öffentlichen Bewusstsein stark zu, dass wir keine wirklichen Verwandten haben, und deshalb wurde die Ansicht aufrechterhalten, dass wir ohne potenzielle Verbündete sind.  Doch wenn wir allein sind, wird man uns zertreten.

Später formulierten gewisse intellektuelle Kreise imperialistische Bestrebungen, die sich bereits zum Ziel gesetzt hatten, dass Ungarn auf dem Balkan, im Nahen Osten und sogar in Zentralasien an Einfluss gewinnt.

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Warum begann ein Teil von ungarischen Intellektuellen sich nach Osten zu wenden und warum zu dieser Zeit?

Neben den zuvor genannten Gründen war ein wichtiger Faktor der signifikante Wandel der ungarischen Wahrnehmung von Türken und der Türkei im 19. Jahrhundert.

Obwohl sich Ungarn und Türken seit dem 14. Jahrhundert regelmäßig bekämpften, endeten die letzten Kämpfe dieser Art mit dem Habsburgisch-Türkischen Krieg Ende des 18. Jahrhunderts. Darauffolgend entspannte sich die ungarische öffentliche Wahrnehmung gegenüber Istanbul.

Nicht zuletzt, weil in der Zwischenzeit, zu Anfang des 19. Jahrhunderts, eine andere Bedrohung an Ungarns Horizont auftauchte, in Gestalt des Russischen Reiches. Zusätzlich brachte diese Bedrohung die Idee des Panslawismus mit sich, die die Schaffung einer politischen, sozialen und kulturellen Einheit unter den slawischen Völkern forderte. Ethnische Agitation ist vielerorts üblich geworden. Infolgedessen entfaltete sich in Ungarn, nach der Logik „Der Feind meines Feindes ist mein Freund”, eine wachsende türkische Sympathie.

Ein weiterer wichtiger Grund ist, dass gerade im 19. Jahrhundert mehrere legendäre ungarische Intellektuelle aktiv waren, die im Wesentlichen ihr Leben für die Erforschung der Geheimnisse des Ostens geopfert haben. Man denke nur an den Begründer der Tibetologie, Sándor Körösi Csoma, oder an Antal Reguly, einen der führenden Vertreter der Finnougristik in Ungarn. Die beiden sind, ohne Übertreibung, geradezu durch ihre Recherchearbeit im Osten umgekommen. Körösi Csoma starb während einer seiner Expeditionen, nachdem er an Malaria erkrankt war. Aber auch Reguly verlor sein Leben aufgrund von Krankheiten, die er sich auf seiner Sammelreise nach Russland zugezogen hat. Ihre Bemühungen in ihrer wissenschaftlichen Laufbahn wurden jedoch von der ungarischen wissenschaftlichen Öffentlichkeit hochgeschätzt.

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Sie haben erwähnt, dass der Turanismus im Laufe der Zeit auch mit imperialistischen Bestrebungen verflochten war. Wo begann diese Verflechtung?

Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867, im Zeitalter des Dualismus, begannen sich diese Ideen allmählich zu verstärken. Der Sinn der Argumentation war, dass Ungarn, welches damals ein BIP gleich allen Balkanländer zusammengenommen hatte, einschließlich Griechenland, tatsächlich eine Großmacht war und entsprechende Ziele haben sollte.

Deshalb dachten viele, vor allem seit den 1910er Jahren, dass die ersten Jahrzehnte nach dem Ausgleich dem Wiederaufbau dienten und jetzt die Zeit für eine Expansion gekommen war. Die Meinungen wurden verstärkt, um Ziele über unsere Grenzen hinaus zu setzen, wie zum Beispiel Handelsfortschritte auf dem Balkan oder privilegierte Beziehungen zum Osmanischen Reich. Das Ganze wurde noch dadurch verstärkt, dass der Orientalismus (in den bildenden Künsten, in der Literatur) zu dieser Zeit in Westeuropa in Mode war, was auch nach Ungarn drang.

Wann wurden diese außenpolitischen Ziele von größerer Bedeutung?

Im Grunde in den 1910er Jahren. Die wichtigste Organisation des ungarischen Turanismus, die Turan-Gesellschaft, wurde 1910 gegründet, und während des Ersten Weltkriegs unterstützte die Regierung ihre Tätigkeit bereits mit beträchtlichen Summen. Zu dieser Zeit wurden mehrere Stipendienprogramme ins Leben gerufen, die eigene Zeitschrift der Turan-Gesellschaft, Turan, erschien zehnmal im Jahr, und das Ungarische Wissenschaftliche Institut in Konstantinopel, das erste ungarische Kulturinstitut im Ausland, wurde eröffnet. Inzwischen sind natürlich vielfältige außenpolitische Ziele formuliert worden. Darunter findet man einige realistische, jedoch auch sehr extreme. Es gab die Idee, das Patriachat von Konstantinopel ungarisch zu machen, aber auch die Idee einer Universität in Belgrad.

Der Gründer der Turan-Gesellschaft, Alajos Paikert, der eine der prägenden Figuren des ungarischen Turanismus war, brachte sogar die Idee eines ungarischen Teilkönigreichs in Libyen ein. Wie ernst war die Idee, einen solchen Staat in Afrika zu schaffen?

Paikert, der auch das Landwirtschaftsmuseum gründete, war ein landwirtschaftlicher Spezialist. In seinem Fall war der Turanismus wohl eher nur eine Modeerscheinung, obwohl er ihm zweifellos viel Zeit widmete. Wenn wir uns sein Bild ansehen, sehen wir einen äußerst konventionellen, früh kahl werdenden, schnauzbärtigen, distinguierten Herrn mit Monokel. Zwischenzeitlich stellte er völlig unrealistische Dinge auf, nicht nur in Bezug auf den Osten. Er schuf eine Weltreligion auf dem Papier, den Völkerbund, reformierte die internationale Strafjustiz, schrieb Gedichte und entwarf eine Schützengrabengräbermaschine. Offenbar stellt auch die Idee eines libyschen Teilkönigreichs für heutige Ohren eine fantastische Kategorie dar, obwohl die Idee während des Ersten Weltkriegs geboren wurde, und damals vielleicht weniger ausgeschlossen schien.

Libyen war zu dieser Zeit bereits eine italienische Kolonie, und Ungarn befand sich im Krieg mit Italien. Der Kern des Vorschlags war, dass, wenn wir Italien besiegen und sie bestrafen, sogar ein ungarisches Teilkönigreich in Libyen geschaffen werden könnte.

Gab es eigentlich unter den formulierten Zielen der Turanisten auch realistische Ziele, oder kann man hier nur von Wunschträumen sprechen?

Offensichtlich waren die zuvor erwähnten extremeren Ideen nicht in der Realität begründet. Ich denke jedoch, dass es bei Stipendienförderungen und ähnlichen Initiativen Fantasie gab. Wenn Ungarn beispielsweise Schulungen organisierte, bei denen Teilnehmern die ungarische Sprache beigebracht wurde, konnten sie nach ihrer Rückkehr wichtige Außenposten der ungarischen wirtschaftlichen oder kulturellen Expansion sein. Tatsächlich muss ich sagen, dass die großen Staaten es mittlerweile nicht anders machen.

Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass die Bereitschaft zur Öffnung nach Osten im ungarischen Bürgertum, insbesondere vor 1918, eher eine Modeerscheinung als ein tief empfundenes Gefühl war. All das gilt bis heute: Die Wertemodelle der ungarischen Gesellschaft und Modernisierung sind seit St. Stephan westlich geprägt und auch so ausgebaut.

Inzwischen hatte die Turan-Gesellschaft auch sehr berühmte Mitglieder, darunter István Tisza und Mihály Károlyi, tatsächlich fast jeder ungarische Ministerpräsident zwischen 1923 und 1944. Wäre diese Organisation ihrer Meinung nach doch von großer Bedeutung gewesen?

Die Blütezeit des ungarischen Turanismus war die Zeit zwischen 1910 und dem Ende des Ersten Weltkriegs, 1918. Wenn wir uns die Mitgliedschaft und aktiven Mitglieder der Organisation zu dieser Zeit ansehen, können wir tatsächlich die prominentesten Leute aus Politik und Wirtschaft unter ihnen sehen. Damals waren viele zukünftige oder aktuelle Ministerpräsidenten oder Minister in der Organisation.

Man muss erkennen, dass der gesamte Turanismus zu dieser Zeit sehr frisch und aufregend war, einfach ausgedrückt trendy. Eigentlich waren weder Tisza noch Károlyi in dieser Organisation besonders aktiv. Károlyi war noch etwas mehr engagiert, jedoch mehr deshalb, weil Pál Teleki ein persönlicher guter Freund war. Teleki hingegen war ein sehr aktives Mitglied der Turan-Gesellschaft und Gründungspräsident.

Das zweite große Aufflammen von Turan kam nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und nach Trianon. Die ständigen Spannungen von östlicher Herkunft und westlicher Musterfolge verschärfte sich. Haben sich die Ziele und die Botschaft des Turanismus geändert? Wie sehr wurde die Bewegung durch das Trauma von Trianon geprägt? Inwieweit hat der Frust und das Verlustgefühl durch Trianon die bisherigen ideologischen Grundlagen verdrängt?

Nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs hat sich der Ideenfluss nach Osten von der Proklamation imperialistischer Bestrebungen vollständig auf die „Ideologie der Frustration” verlagert. Vor dem Krieg und besonders während des Krieges pumpte die Regierung viel Geld in Projekte, die die Beziehungen zum Osten vertieften. In den 1910er Jahren dachten viele, dass das der Weg der Zukunft sein würde, oder zumindest ein Weg. Die Niederlage im Krieg wusch all dies weg. Die Träume blieben danach auch noch, nur mit einem leicht bitteren Geschmack im Mund. Nach dem Trauma von Trianon verstärkte sich eher der Gedanke an eine Abkehr vom Westen.

Inzwischen ist von Seiten der Regierung zu beobachten, dass die ganze Bewegung eine Stufe tiefer gegangen ist: In der Turan-Organisation gibt es unter den Mitgliedern keine Ministerpräsidenten, Minister und Großunternehmer mehr, sondern nur noch Staatssekretäre, Staatssekretäre im Ruhestand, Stadträte und hochrangige Politiker. Die Regierung versuchte wiederum sich die Rosinen, also nationalverwandte (finnische, estnische) Beziehungen aus den Aktivitäten der Organisation herauszupicken und machte wichtige Avancen gegenüber den kürzlich unabhängig gewordenen nördlichen Verwandten.

Was geschah mit dem Turanimus nach dem Zweiten Weltkrieg? Wie konnten die Turanisten aktiv sein unter der tobenden Diktatur von Rákosi und später Kádár?

Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich eine besondere Wendung. Es ist klar, dass die kommunistische Staatsmacht das Thema Turanismus nicht berührt hat. Radikale Rechte, unter ihnen gab es auch Turanisten, waren mit geringerer Wahrscheinlichkeit von kommunistischen Vergeltungsmaßnahmen betroffen. Dies lag natürlich eher an ihren rechten Ansichten als an ihrer Hinwendung zum Osten. Es gab jedoch mehrere, die starben oder das Land verließen. Letztere Gruppe war auch dafür verantwortlich, dass der Turanismus in der Emigration mit neuen Inhalten gefüllt wurde. Zu dieser Zeit wurde die Idee der sumerisch-ungarischen Volksverwandtschaft verstärkt, insbesondere durch die Vertreter des radikalen Flügels der Ideenströmung in der Emigration. Übrigens hat diese Theorie der Volksverwandtschaft einen wissenschaftlichen Hintergrund, es lassen sich Autoren aus dem 19. Jahrhundert aufzeigen, die meinten, es bestehe eine ungarisch-sumerischer Sprachverwandtschaft. Tatsächlich gab es diejenigen, die geradewegs von einer Volksverwandtschaft sprachen. Natürlich ist es wichtig festzuhalten, dass diese Thesen von wissenschaftlicher Kritik damals und heute auch klar abgelehnt werden.

Neben den ins Ausland Geflüchteten sind einige der Turanisten in Ungarn geblieben, obwohl sie während der harten Rákosi-Diktatur in den 1950er Jahren kaum Gelegenheit hatten, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Erst am Ende des Jahrzehnts beginnt eine Art Bewegung aufzuleben: Netzwerke entstehen, Zeitschriften erscheinen. Eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der Forschung der sumerisch-ungarischen Volksverwandschaft ist der ehemalige persönliche Sekretär des römisch-katholischen Kardinals József Mindszenty, der Priester András Zakar. Zahlreiche Bücher aus Westeuropa werden eingeschmuggelt, die sich hauptsächlich mit der sumerisch-ungarischen Verwandtschaft befassen. Für diese werden dann Buchnetzwerke organisiert, illegale Bände werden vervielfältigt und verkauft. Ihre Inhalte werden dann in Freundeskreisen und Briefen diskutiert.

Fact

In Bezug auf den Ursprung der ungarischen Sprache kamen im 18. Jahrhundert erste Nachrichten ins Land, dass das Ungarische eine engere Beziehung zum Finnischen haben könnte, aber die Verwandtschaft mit der als „barbarisch und unkultiviert“ bezeichneten Seite wurde von der ungarischen Öffentlichkeit lange abgelehnt. Ab den 1850er Jahren wurde sogar die falsche Legende verbreitet, dass Finn-Uiguren habsburgische Agenten wären. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verglich man in der Sprachwissenschaft viele Sprachen miteinander und schloss viele Möglichkeiten aus (wie die Paarung Sumerisch-Ungarisch oder Etruskisch-Ungarisch). Die hitzigste Debatte über die Herkunft des ungarischen Volkes und der ungarischen Sprache setzte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fort. Der sogenannte „ugrisch-türkische Krieg“ spaltete zugleich Forscher und Öffentlichkeit. Letztere sympathisierte mehr mit der von Ármin Vámbéry beworbenen und vermutlich bewiesenen türkisch-ungarischen Verwandtschaft. Dagegen stand die finno-ugrische Sprachverwandtschaft, beworben von Pál Hunfalvy und József Budenz. Die Frage wurde Ende des Jahrhunderts im Wesentlichen geklärt, und seitdem gab es in der wissenschaftlichen Welt keine Debatte mehr über die Zusammengehörigkeit finno-ugrischer Sprachen.

Rückblickend ist der Turanismusgedanke in den letzten Jahrzehnten im öffentlichen Leben und in der Politik oft wieder aufgetaucht. Warum lebt noch heute in uns der Wille nach einer Volksverwandtschaft zu suchen?

Ich halte das alles nicht für ein ungarischen Unikum, das ist kein besonderes ungarisches Phänomen. Bei vielen umliegenden Nationen ist das zu sehen.

Obwohl ich darüber keine Informationen aus erster Hand habe, erzählen mir meine hervorragenden iranischen Kollegen, dass in Kroatien ein Teil der öffentlichen Meinung voll und ganz von einer kroatisch-persischen Verwandtschaft überzeugt ist. Dies wird auch durch keinerlei wissenschaftliche Beweise gestützt, dennoch gibt es dort diese Tradition.

Warum beschäftigt es so viele Ungarn, im Osten Geschwister zu finden? Die Tatsache, dass wir sowohl sprachlich als auch kulturell relativ allein sind, spielt sicherlich eine Rolle für die ungarische Identität. Das frustriert viele. Inzwischen gibt es einige, die es mit Stolz erfüllt, wenn sie sagen können, dass die Ungarn schon vor 3000 Jahren hier im Karpatenbecken lebten. Ich sehe nicht so viel Anziehungskraft darin, aber irgendwo glaube ich zu verstehen, warum jemand denken könnte, er sei stolz darauf, sich dessen bewusst zu sein. Ich persönlich habe das Gefühl, dass wir eine aufregende Geschichte und eine Sprache haben, die reiche und unerhörte Werte schaffen kann. Darauf können wir auch stolz sein, und wir brauchen dazu nicht unbedingt das Wissen, ob das ungarische Volk in dieser Region schon vor allen anderen Völkern erschienen ist.

Die Theorie der östlichen Verwandtschaft wurde bei der von der Orbán-Regierung angekündigten Öffnung zum Osten mehrfach geäußert. Der Premierminister hat auch mehrere Erklärungen abgegeben, in denen er auf seine Verwandtschaft mit den Völkern des Ostens verweist. Lassen sich „turanistische“ Züge in der Kommunikation von Regierung und Ministerpräsidenten entdecken?

Zweifellos gab es in den letzten Jahren Äußerungen des ungarischen Premierministers, die auf die vermeintliche oder tatsächliche östliche Verwandtschaft des ungarischen Volkes verweisen, möglicherweise mit dem Ziel, engere Beziehungen zum Osten aufzubauen. Ein gutes Beispiel für Ersteres ist der Kommentar des Premierministers vor einigen Jahren auf einem Gipfeltreffen des OTS (Organisation der Turkstaaten), wo er sagte, dass „in vielen Ungarn auch Kiptschaker Blut fließt“. Aber es gibt das 2011 angekündigte Öffnungsprogramm zum Osten der Orbán-Regierung, dessen Hauptziel es ist, die geografische Diversifizierung der ungarischen Exporte, insbesondere in die aufstrebenden asiatischen Länder zu fördern.

Natürlich ist es an sich nicht zu verurteilen, dass ein Land versucht, seinen außenpolitischen Handlungsspielraum zu erweitern oder diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Jetzt leben wir natürlich in solchen Zeiten, in denen wir auch dessen Grenzen sehen.

Es ist offensichtlich, dass es bei solchen diplomatischen Verhandlungen auch darum gehen muss, guten Willen zu erlangen. Wir müssen etwas sagen, was sie vielleicht von uns hören wollen. Mit solchen Aussagen versuchen wir die Dinge auszuschmücken. Obwohl viele Menschen solche Erscheinungen seltsam und manchmal auch lustig finden, würde ich ihnen keine große politische Bedeutung beimessen.

(geschrieben von Péter Cseresnyés – Hungary Today, übersetzt von Katharina Haffner, Fotos: Zita Merényi)