„Infolge des Trianon-Vertrages vom 4. Juni 1920 war Ungarn gezwungen, nicht nur mehr als zwei Drittel seines Territoriums abzutreten, sondern verlor auch einen beträchtlichen Teil seiner magyarischen Bevölkerung. Fortan lebten mehr als drei Millionen Ungarn in Rumänien, in der Sowjetunion (heute in der Ukraine), in der Tschechoslowakei (später in der Slowakei) sowie im Königreich Jugoslawien (heute in erster Linie in Serbien, aber auch in Kroatien und Slowenien)“ schrieb Martin Josef Böhm, Forschungsassistent am Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium in Budapest. Der Autor erstellte einen Überblick, wie diese Zahl ständig schrumpfte und was der ungarische Staat für ihre „gewaltsam getrennten“ Bürger getan hat.
Heute, 101 Jahre nach Trianon ist die Zahl der in den jeweiligen Staaten lebenden Ungarn – trotz des allgemeinen Bevölkerungsanstieges im 20. Jahrhundert – um etwa eine Million auf zwischen zwei und zweieinhalb Millionen geschrumpft, die Tendenz ist weiterhin fallend, warnt der Autor des Artikels.
Mehr als die Hälfte der Auslandsungarn lebt in Rumänien, knapp eine halbe Million in der Slowakei, etwa 250.000 in der serbischen Wojwodina sowie um die 150.000 in der Karpatenukraine
so Böhm und fügt hinzu, dass wenn man etwa in das ziemlich homogen ungarische Szeklerland in Siebenbürgen oder in das an Ungarn grenzende Gebiet in der Ukraine reist, empfangen einen zweisprachige Ortsschilder und römisch-katholische, protestantische oder unitarische Kirchentürme – weniger, wie vielleicht von vielen westeuropäischen Touristen erwartet, Zwiebeltürme orthodoxer Kathedralen.
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„Friedliches Nebeneinander in Gefahr“
„Durch die Ungarn lebt Mitteleuropa in den sonst ost- und südosteuropäisch geprägten Kulturen Serbiens, Rumäniens und der Ukraine weiter“ betont Böhm in seinem Schreiben.
Zugleich gefährden die wiederkehrenden antimagyarischen Äußerungen vonseiten hoher Amtsträger – wie etwa die Worte des rumänischen Präsidenten Klaus Johannis, der im Mai 2020 die Ungarn Rumäniens der Bestrebung nach Sezession bezichtigte – das friedliche Nebeneinander der Völker Mitteleuropas
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Böhm erinnert auch daran, dass die Lage der Ungarn in der Ukraine, wo der Bevölkerungsschwund der Ungarn drastischer als in den anderen genannten Staaten erfolgt ist, seit einigen Jahren tatsächlich besorgniserregend sei. Als Beispiel nennt er als im Januar diesen Jahres, kurz vor dem Besuch des ungarischen Außenministers Péter Szijjártó in Kiew, ukrainische Rechtsextremisten den transkarpatischen Ungarn mit einem Blutbad drohten.
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Als weiteres Beispiel deutet er darauf hin, als vor drei Jahren das ungarische Kulturhaus in Brand gesetzt wurde.
Zudem lastet vonseiten der ukrainischen Politik mindestens seit dem Krieg im Osten des Landes ein erhöhter Druck auf allen Nicht-Ukrainern. In diesem Zeichen steht neben dem Bildungsgesetz, welches die Marginalisierung anderer Sprachen neben dem Ukrainischen im Bildungswesen vorsieht, auch eine jüngere konkret diskriminierende Maßnahme: Einer Verordnung aus dem März 2021 gemäß dürfen Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft – was auf die Mehrheit der Ungarn der Karpatenukraine zutrifft – keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden.
In Bezug auf Rumänien ist Böhm der Meinung, dass das Verhältnis zur ungarischen Minderheit bisweilen angespannt sei, doch „da sind sich die Auslandsungarn meistens einig“.
Minderheitenpolitik des ungarischen Staates
Böhm betont zugleich, dass währenddessen die ungarische Regierung „ihr Bestes tut, um die Auslandsungarn durch finanzielle und ideelle Zuwendungen beim Erhalt ihrer Kultur zu unterstützen“.
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Eine Vielzahl verschiedener Hochschulen, Museen und Kultureinrichtungen wird mit Geldern aus Budapest betrieben. Baudenkmäler werden renoviert, die ohne diese Mittel dem Verfall preisgegeben wären. Mehr als 30 Jahre nach der Beseitigung des Kommunismus ist das institutionelle Leben der Ungarn jenseits der Schengen-Grenze wieder aufgeblüht, trotz der von Jahr zu Jahr abnehmenden Bevölkerung.
Im 100. Gedenkjahr von Trianon bezeichnete die Regierung das ganze Jahr als das „Jahr des Zusammenhaltes“.
Nach Ansicht von Ministerpräsident Viktor Orbán fanden „100 Jahre Einsamkeit Ungarns“ ein Ende. Ungarn ist 30 Jahre nach der Wende einer der Motoren eines neuen, partnerschaftlichen Mitteleuropas.
Der Autor kritisiert zugleich die Europäische Union, nämlich dass sie ihr Motto „in Vielfalt geeint“ etwas anders interpretiert als wir Ungarn. „Vielfalt wird im gegenwärtigen Diskurs der Identitätspolitik jedoch vor allem auf sexuelle Orientierung, Religion oder Hautfarbe bezogen, wohingegen die Kategorie Ethnie – insbesondere wenn es sich um europäische Ethnien handelt – mit Argwohn betrachtet wird“.
Die Autonomie oder ein verstärkter Regionalismus für die ungarischen Gebiete nach dem Vorbild von Åland, Südtirol oder zumindest dem Baskenland wäre letztlich ein durchaus europäisches Anliegen. Multikulturalismus auf mitteleuropäisch also
schloss Böhm seine Gedanken.
(Der Autor ist Forschungsassistent am Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium in Budapest, den vollständigen Artikel finden Sie unter dem Link., Titelbild: MTI )